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Endlich vereint

Frau Heidari* aus Afghanistan kommt seit langem zu uns in die Beratung. Im Sommer 2018 teilt sie uns mit, dass ihr minderjähriger Sohn Reza*, damals 16 Jahre alt, in Griechenland angekommen ist und sie Hilfe braucht, damit er nach Deutschland, zu ihr, weiterreisen kann – es ging um eine sogenannte Familienzusammenführung. Dies ist ein Thema, das in sehr vielen Beratungsgesprächen in unserer regionalen Beratung aufkommt.

Die Besonderheit im Fall von Frau Heidari ist, dass sie nicht durch ihre Flucht aus Afghanistan von ihrem Sohn getrennt wurde, sondern sie ihn, als er gerade einmal zwei Jahre alt war, an ihren Exmann abgeben musste und somit seit knapp 15 Jahren nicht mehr gesehen hatte. In Afghanistan haben die Frauen kaum Rechte, erst recht kein Sorge- oder Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre eigenen Kinder. Frau Heidari musste dem Wunsch ihres Exmannes nachgeben und hat so ihren Sohn im Kleinkindalter verloren – ein Verlust für immer. Eigentlich.

Nachdem Reza im Alter von 16 Jahren in Afghanistan zufällig einen Familienangehörigen der Mutter getroffen hatte, konnte er endlich wieder Kontakt mit ihr aufnehmen – zum ersten Mal nach so langer Zeit. Als er dann von den Taliban verfolgt wurde und den Entschluss fasste, sein Afghanistan zu verlassen, war die Richtung für ihn klar: Nach Europa, nach Deutschland, zu seiner verloren geglaubten Mutter.

Gelandet ist er in Griechenland. Weiterreisen konnte er aufgrund der europäischen Gesetze, vor allem aufgrund der sogenannten „Dublin-Verordnung“ nicht. Diese regelt, dass das erste EU-Mitgliedsland, in dem ein Flüchtling registriert wird, für die Bearbeitung seines Asylantrages zuständig ist. Reza konnte also nicht eigenständig nach Deutschland weiterreisen, sondern musste auf die Dublin-Familienzusammenführung warten.

Hierbei bittet Frau Heidari uns um Unterstützung. Wir von ProAsyl/Flüchtlingsrat Essen e.V. recherchieren dann zunächst, um die für Minderjährige zuständige Organisation in der Stadt zu finden, in der Reza sich aufhält. Wir sind erfolgreich und können letztendlich nicht nur mit den Betreuern in der Einrichtung von Reza Kontakt aufnehmen, sondern auch klären, ob für ihn als unbegleiteten Minderjährigen eine amtliche Vormundschaft eingerichtet wurde. Wir stehen in regelmäßigem Austausch mit den Betreuern vor Ort.

Das nächste Problem liegt darin, dass Reza keine Ausweispapiere bei sich führt – viele Geflüchtete verlieren diese auf der Flucht oder müssen sie den Schleppern aushändigen, die damit dann noch weitere Zahlungen erpressen. Im Fall von Reza haben die griechischen Behörden dann ein fiktives Geburtsdatum festgelegt, nachdem er bereits im Herbst 2018 volljährig werden sollte. Eine Dublin-Familienzusammenführung wäre damit ausgeschlossen, denn diese gilt nur für minderjährige Kinder, die zu ihren Eltern nachziehen möchten. Das Wiedersehen zwischen Frau Heidari und ihrem Sohn ist in Gefahr.

Durch unseren Kontakt mit den Behörden in Griechenland können wir diese Information an Frau Heidari weitergeben, sie kann durch Verwandte in Afghanistan die Tazkira (Geburtsurkunde) ihres Sohnes besorgen und nach Griechenland schicken. Kurz bevor Reza nach dem fiktiv festgesetzten Geburtsdatum volljährig wird, können wir gemeinsam mit den griechischen Behörden erreichen, dass sein Geburtsdatum korrigiert wird. Wir gewinnen ein wenig Zeit, es gibt wieder Hoffnung, dass die Familie wiedervereint werden kann.

Dann das nächste Problem: Die griechischen Behörden korrigieren zwar Rezas Geburtsdatum, glauben nun aber nicht, dass Frau Heidari seine leibliche Mutter sei. Was tun? Sie ist in dieser Zeit sehr verzweifelt, das inständige Hoffen und die permanenten Rückschläge haben ihr stark zugesetzt. Wir informieren sie über die Möglichkeit, die Mutterschaft per DNA-Test nachweisen zu lassen. Aber sie in Deutschland, ihr Sohn in Griechenland - wie soll das gehen? Im Herbst 2018 liegen dann die zweifelsfreien Beweise vor, dass Frau Heidari die leibliche Mutter von Reza ist. Doch wieder werden ihre Hoffnungen auf ein baldiges Zusammentreffen mit ihrem Sohn enttäuscht. Das Dublin-Referat des BAMF in Deutschland stimmt zwar dem griechischen Übernahmeersuchen zu, doch einfach so nach Deutschland fliegen darf Reza trotzdem nicht. Die griechischen Behörden müssen seine Überstellung organisieren und in dieser Lage ist er er einer von Tausenden, die auf die Familienzusammenführung nach Deutschland warteten.

Monate verstreichen ergebnislos. Für Frau Heidari eine kaum erträgliche Wartezeit, die sie enorm zermürbt. Wir stehen ihr in dieser Zeit bei, sind in der Beratung für sie ansprechbar, stabilisieren und unterstützen sie psychosozial. Frau Heidari ist verzweifelt, und weint oft und viel in der Beratung. Wir vermitteln sie an einen Psychotherapeuten.

Endlich, im Spätsommer 2019, einen Monat vor tatsächlicher Volljährigkeit ihres Sohnes, kommt dann die erlösende Nachricht: Reza kommt nach Deutschland! Jetzt! Doch obwohl beide sehr auf das Wiedersehen hingefiebert haben, waren die ersten gemeinsamen Wochen sehr schwer. G. hat seit seiner Kindheit die Lücke, die seine Mutter in seinem Leben hinterlassen hatte, durch Abschottung kompensiert. Er hat sich zurückgezogen und ist zu einem introvertierten Jungen geworden. Dann wurde er von den Taliban verfolgt und hat während der Flucht auch in der Türkei schlimme Erfahrungen durchmachen müssen. Er war zu einem verschlossenen, reservierten, jungen Mann geworden, der kein Vertrauen in die Menschen um ihn herum setzt. Seine Mutter, die er nie wirklich kennen gelernt hat, ist ihm nach wie vor fremd. Sie lebt mittlerweile mit einem neuen Ehemann zusammen. Reza hat jetzt Halbgeschwister, die er nie kennen gelernt hatte. Die ersten Wochen bei seiner „neuen“ Familie sind daher sehr hart. Hier begleitet unser Berater Kaveh Shoaei die Familie unterstützend: Er führt viele Gespräche mit der Familie, auch mit Reza. Dabei kommt ihm zugute, dass er den Kulturkreis selbst gut kennt  viel Verständnis für die Ereignisse und Empathie für die psychischen Belastungen aufbringen kann. Familie Heidari hat schnell Vertrauen zu ihm fassen können, auch weil er ihre Muttersprache spricht. Dieser Vorteil führt dazu, dass die Ratsuchenden sich nicht nur sprachlich, sondern auch kulturell verstanden fühlen.

Mittlerweile hat Reza mit Hilfe der Mitarbeiter*innen von ProAsyl/Flüchtlingsrat Essen e.V. einen schriftlichen Asylantrag beim BAMF gestellt und lebt jetzt seit knapp einem Monat bei seiner Mutter, bei der er sich auch immer wohler fühlt. Beide sind mittlerweile überglücklich. Es hat einige Wochen gedauert, bis Reza auch auf emotionaler Ebene verstanden hat: Jetzt bin ich angekommen, jetzt bin ich in Sicherheit. Er hat mit den Erlebnissen nach wie vor sehr zu kämpfen, ist sehr belastet, aber auch hier stehen die Berater*innen von ProAsyl/Flüchtlingsrat Essen e.V. ihm weiterhin für reflektierende Gespräche zur Seite. 

*: die Namen wurde zum Schutz der Personen geändert.

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