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Offener Brief „Keine Bezahlkarte für Geflüchtete in Essen“

Sehr geehrter Oberbürgermeister Thomas Kufen,
sehr geehrter Sozialdezernent Peter Renzel,
sehr geehrte Mitglieder des Rates der Stadt Essen,

im Jahr 2020 wurde das Essener Rahmenkonzept „Zusammenleben in Vielfalt“ vom Rat der Stadt Essen beschlossen. Das darin beschriebene Essener Leitbild Zusammenleben in Vielfalt sieht dabei das Zusammenwachsen zu einer Gesellschaft als wechselseitigen Prozess. „Offenheit und gegenseitiger Respekt, die Achtung des Grundgesetzes und der Rechtstaatlichkeit, die Einordnung in Normen und Werte, eine Gleichbehandlung und die Abwehr von Diskriminierung sind zentrale Voraussetzungen, damit dieser Prozess gelingt.“ 

Wir begrüßen dieses Selbstverständnis unserer Stadt, sich gegen Diskriminierungen einzusetzen und appellieren deshalb als unterzeichnende Organisationen, keine Bezahlkarte für Geflüchtete in Essen einzuführen. Die Einführung der Bezahlkarten wird zurzeit in vielen Kommunen in NRW diskutiert. Einzelne Kommunen, wie beispielsweise Dortmund, haben sich bereits gegen eine Einführung ausgesprochen.  Wir möchten Ihnen die aus unserer Sicht zentralen Argumente gegen eine Einführung einer Bezahlkarte kurz darlegen.

Fehlannahmen

Die Befürworter*innen der Bezahlkarte führen unter anderem an, dass durch die Einführung der Karte der Verwaltungsaufwand minimiert werden könnte. Seit vielen Jahren haben Geflüchtete das Recht, ein sogenanntes Basiskonto einzurichten, auf welches die Sozialleistungen unkompliziert per Überweisung ausgezahlt werden können. Eine Umstellung der Auszahlung von bereits bestehenden Konten von Geflüchteten in der Zukunft auf eine Bezahlkarte wird zu einem erhöhten Verwaltungsaufwand führen. Eine zusätzliche und weitreichendere Fehlannahme besteht darin, dass die Bezahlkarte als Instrument verstanden wird, um sogenannte „Fehlanreize“ (also „Pull-Faktoren“) für Asylsuchende zu minimieren und die Zahl der Asylsuchenden somit zu senken. Diese Fehlannahme ist in der Migrationsforschung vielfach widerlegt worden.  Menschen fliehen aufgrund von Krieg, Unterdrückung und humanitären Notlagen. Fluchtbewegungen lediglich auf ökonomische Gründe zurückzuführen greift deshalb zu kurz. Auch die Annahme, dass Menschen, die Asylbewerberleistungen beziehen, vielfach große Summen in ihre Herkunftsländer überweisen, wird von Migrationsforschenden aufgrund der geringen Höhe des Asylbewerberleistungsgesetz  (monatlicher Betrag des persönlichen Bedarfs: max. 204 € pro erwachsene alleinstehende Person) angezweifelt.

Diskriminierend und verfassungswidrig

Aber nicht nur die zugrunde liegenden Fehlannahmen sprechen gegen die Einführung einer Bezahlkarte. Wir lehnen die Einführung auch deshalb ab, da sie diskriminierend und absehbar verfassungswidrig ist. Die Höhe des Asylbewerberleistungsgesetz liegt unter dem Existenzminimum (ca. 20% weniger als das Bürgergeld). Das Bundesverfassungsgericht stellte bereits 2012 in seinem wegweisenden Urteil klar, dass diese Ungleichbehandlung im offensichtlichen Widerspruch zum Grundgesetz steht: „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“  Die Einführung einer Bezahlkarte würde nun bedeuten, dass die Leistungsempfänger*innen über diese zu geringen Zahlungen nicht mal mehr frei verfügen könnten.

Je nach Umsetzung einer gesonderten Bezahlkarte wird der Zugang zu Überweisungen und zu Bargeld begrenzt. Die fehlende Möglichkeit der Überweisung schränkt beispielsweise das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz ein, da Rechtsanwält*innen meist auf Ratenzahlung per Überweisung setzen. Geflüchteten Menschen würde die Freiheit genommen Verträge abzuschließen – egal ob Versicherungen, Telefonverträge, Online-Einkäufe oder das Deutschlandticket. Auch der Zugang zum Studium würde massiv eingeschränkt, da der Sozialbeitrag meist überwiesen werden muss. Je nach konkreter Ausgestaltung der Karte stünde den Betroffenen wenig bis gar kein Bargeld mehr zur Verfügung. Sie könnten weder in kleinen Geschäften oder auf Märkten einkaufen, die keine Kartenzahlung bieten, noch könnten sie ihren Kindern Bargeld für den Schulausflug mitgeben oder Münzautomaten – beispielsweise für öffentliche Toiletten – nutzen.

Verfassungsrechtlich zutiefst problematisch ist auch die angedachte Möglichkeit, die Nutzung der Bezahlkarte örtlich oder auf bestimmte Waren zu beschränken. Sozialleistungen als Kontroll- und Disziplinierungsinstrument zu missbrauchen, ist ein massiver Eingriff in die Würde und Handlungsfreiheit eines jeden Menschen und absehbar verfassungswidrig. Hinzu kommen einige ungeklärte Fragen hinsichtlich des Datenschutzes. Es ist derzeit unklar, welche Institutionen Zugriff auf die Daten der Bezahlkarte erhalten. Möglicherweise könnte ein Zugriff zu Disziplinierungszwecken missbraucht werden.

Deshalb: Nein zur Bezahlkarte!

Insgesamt würde die Bezahlkarte die gesellschaftliche Teilhabe und damit die Integration geflüchteter Menschen in Essen erheblich einschränken und steht somit konträr zum Ziel der Essener Strategie, ein Leben ohne Diskriminierungen für alle Menschen zu ermöglichen. Geflüchteten Menschen würde im Alltag durch die Einführung der Bezahlkarte fortlaufend vermittelt, nur Menschen zweiter Klasse zu sein. Wir fordern Sie deshalb auf, sich im Rat der Stadt Essen gegen eine Bezahlkarte auszusprechen und sich auch auf Landesebene gegen eine NRW-weite, verpflichtende Einführung einzusetzen.

Mit freundlichen Grüßen
die unterzeichnenden Organisationen

Der offene Brief kann hier (mit Fußnoten und Anmerkungen) heruntergeladen werden.


Unterzeichnende Organisationen
ProAsyl/Flüchtlingsrat Essen e.V.
Aidshilfe Essen e.V.
Antirassismustelefon e.V.
AWO KV Essen e.V.
AWO Lore-Agnes-Haus
Beirat für Flüchtlingsfragen und Migration des Kirchenkreises Essen
Bürgerbündnis "Mut machen - Steele bleibt bunt"
DGB-Jugend Mülheim Essen Oberhausen
DIDF-Essen
Ev. Jugend- und Familienhilfe Essen gGmbH
Flüchtlingsrat NRW e.V.
Friedensforum Essen e.V.
Grüne Jugend Essen
Informationsstelle Antikurdischer Rassismus - IAKR
Kettwig hilft e. V.
MediNetz Essen e.V.
pax christi Diözesanverband Essen
Plan B Ruhr e.V.
Runder Tisch Holsterhausen e. V.
Seebrücke Essen
VielRespektZentrum/VielRespektStiftung
VVN-BdA Essen

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